Sonntag, 1. Januar 2012

Von hier an blind












Es ist noch dunkel als ich mich am frühen Morgen dazu entschließe endlich nach Westen zu segeln. Ich bereite also alles für eine Halse vor und bin bald darauf auf Backbordbug. Meine beiden Verfolger Bert Bossyns (585) und Brendan Archin (757) behalten ihren Kurs bei, schließen sich mir nicht an. Ihre Positionslichter wandern langsam hinter meinem Heck auf die andere Seite.
Nach dem Start vor Madeiras Steilküste hatte ich am Vortag den Ratschlag des Routers Jean-Yves Bernot befolgt, erst nach Südosten zu segeln um den langen Windschatten der hohen Insel zu verlassen und frühestens 60 Meilen südlich von ihr nach Westen zu gehen. Das Feld hatte sich an der Luvmarke weit aufgefächert und nur ein kleiner Teil beim noch vorherrschenden Westwind die Osttaktik gewählt. Bald schon waren erste Zweifel gekommen: würde sich der Umweg lohnen, der Wind rechtzeitig wie angesagt auf Nordost drehen und meine Konkurrenten ausreichend lange im Schwachwind festhalten?
Nur ungern will ich einen Alleingang  ohne Bert und Brendan wagen, den Kontakt zu den einzigen auf meiner Seite verbliebenen Mitstreitern aufgeben. Trotzdem bleibe ich bei meiner Entscheidung, überzeugt davon, dass es auf dieser Seite des Feldes nichts mehr zu holen gibt.
Start vor Funchal (Madeira)


Gwenole Gahinet (455) gewinnt am Ende das Minitransat
Ich komme nicht mehr dazu den Erfolg oder Misserfolg meiner Taktik ernsthaft zu bewerten. Bald nach Sonnenaufgang passiert das erste Missgeschick, mit unangenehmen Folgen. Der Autopilot fällt auf einer Welle etwas zu weit ab, der Spinnaker verliert im Windschatten des Großsegels den Druck, bekommt stattdessen Fahrtwind von vorne ab, drückt sich zwischen Vorstag und Mast hindurch und beginnt sich schließlich um das Vorstag zu wickeln. Ich schalte zu langsam, kann den Vorgang nicht mehr rückgängig machen, die Eieruhr, die der Spi nun vorne bildet, verfestigt sich immer mehr. Per Handsteuerung versuche ich das rote Segel dazu zu bewegen, sich wieder in die Gegenrichtung zu drehen und vom Drahtseil zu lösen. Vergeblich. Stattdessen muss ich zusehen, wie etliche Konkurrenten meinen Weg kreuzen und mich überholen. Als ich endlich auf dem Vorschiff den Spi mühsam vom Vorstag  wickele, taucht der Spibaum in eine Welle ein und wird langsam vor meinen Augen vom Wasserdruck verbogen und aus seiner Befestigung am Bugkorb gerissen. Etwa zwei Stunden später bin ich wieder im Rennen, der rote Spi wird nun von meinem zweiten Spibaum gehalten, den ich eigentlich als Ersatzteil für die das Material beanspruchenden Reachingkurse zwischen dem Äquator und Brasilien vorgesehen hatte.
Mitten in der zweiten Nacht, keine 48 Stunden nach dem Start, werde ich erneut unsanft ausgebremst. Das Boot läuft aus dem Ruder, legt sich stark auf die Seite, wovon ich aufwache. Eigentlich eine Routinesache, keine Besonderheit, ich gehe an Deck, öffne die Segel etwas. Der Wind hat aufgefrischt auf 5-6 Beaufort, einige Stunden zuvor hatte ich deshalb auf den Medium Spinnaker gewechselt. Ich kann RIKKI TIKKI wieder auf Kurs bringen, der Spi füllt sich mit einem dumpfen Knall, doch das schon gealterte Tuch hält dem plötzlichen Druck nicht Stand, ich sehe nur noch Fetzen vor mir und muss die Überreste des Segels ins Cockpit bergen.
RIKKI TIKKI westlich der Kanaren (Foto: Begleitschiff ATYPIK)
In den nächsten Tagen bin ich extrem vorsichtig, traue mich kaum in der rauen und chaotischen See überhaupt noch einen Spi zu setzen. Als ich es versuche, schießt RIKKI TIKKI sofort wie eine Rakete die großen Wellen hinunter, mein Adrenalinspiegel steigt rapide. Dabei kommt der Spibaum den Wellenbergen vor uns gefährlich nahe. Nein, ich will jetzt einfach nichts riskieren, mein wichtigstes Ziel lautet: ankommen in Salvador, der Code 5 verschwindet wenige Minuten später wieder und wird durch die Genua ersetzt.
Einige Tage später, kurz nachdem ich die malerische Kullisse der Insel Sao Nicolau (Kapverden) hinter mir gelassen habe, entgehe ich nur knapp dem endgültigen Aus meiner Unternehmung. Durch einen Zufall entdecke ich, dass einer der Bolzen, die das Backbordruder in den Beschlägen am Heck halten, kurz davor ist vollständig herauszurutschen, was den Verlust der Ruderbeschläge und deren Verankerung im Heck bedeuten würde. Ein mit den mir zur Verfügung stehenden Bordmitteln irreparabler Schaden. Ich habe wahnsinniges Glück, dass ich den Bolzen gerade noch rechtzeitig wieder in seine Position hämmern und anschließend einen neuen Sicherungssplint anbringen kann und habe von nun an ein noch wachsameres Auge auf mein Material.
Atlantikdünung im Nordostpassat

C´est le Pot au Noir, oui. On vous souhaite bonne chance et des bonnes nerves!“ Die Funkroutine mit dem Begleitschiff PEN AR CLOS am Morgen des 22.10. ist einer der wenigen Kontakte, die ich auf dieser Transatlantiketappe überhaupt habe, denn durch meine beiden Schäden war ich schon früh außer Funkreichweite geraten. Taktisch befinde ich mich daher nahezu in einem Blindflug, habe keinerlei Information über die Positionen anderer Minis und kann mich nur an die allgemeinen Routinganweisungen von Jean-Yves Bernot halten. Außer mir sind an diesem Tag noch Marie Duvignac (660) und Susanne Beyer (745) in Reichweite der PEN AR CLOS, die uns also viel Glück und gute Nerven wünscht für den „Pot au Noir“, die Doldrums, die Konvergenzzone zwischen dem Nord- und dem Südostpassat, ein Bereich in den Tropen, in dem sich Flaute und Gewittersturm abwechseln. Was mit „bonnes Nerves“ gemeint ist, werde ich in den nächsten sieben Tagen zur Genüge erleben.
Die Funkankündigung überrascht mich. Unsere geografische Breite beträgt etwa 13° Nord, viel zu früh eigentlich für die Doldrums. Erste Ausläufer, kleinere Squalls mit Sturmböen also, hatte ich erst ab 10° Nord, 180 Meilen weiter südlich erwartet. Aber ein tropisches Tief vor Westafrika sorgt für Instabilität im Wettersystem, das hatte Denis Hugues in den letzten Wettervorhersagen verkündet. Vergangene Nacht war es dann losgegangen, der Windmesser immer weiter angestiegen, bis 35 Knoten, Windstärke 8. Die Stärke des Squalls und die Geschwindigkeit der Windzunahme hatte ich nicht erwartet. Während RIKKI TIKKI mit nur zwei Reffs im Groß und voller Genua raumschots durch das nächtliche Unwetter segelte, beobachtete ich drinnen gespannt das Display am Mast. Die drei Informationen, die ich dort ablesen kann, sind Anhaltspunkt genug um festzustellen ob das Boot stabil läuft. Wenn der Autopilot im „True-Wind-Mode“ steuert äußern sich Winddreher durch entsprechende Kursänderungen, Windgeschwindigkeit und Bootsspeed lassen ein Urteil über die Wahl und Einstellung der Segel zu. Erst als der Wind auf 25 bis 30 Knoten abgeflaut war, hatte ich mich getraut ein paar Schlafetappen einzulegen.


Doldrums: zwei Squalls am Horizont mit viel Regen und viel Wind


Wenige Stunden später rauscht die ITCZ (Intertropische Konvergenzzone) wie ein Güterzug über mich hinweg. Ich bin jetzt vorgewarnt, als ich die dunkle Wolkenfront auf mich zukommen sehe, weiß, dass ich schnell sein muss. Anstatt, wie zunächst geplant, den großen Spi durch den Code 5 zu ersetzen, bereite ich meine Sturmfock vor. Das orange Minisegel ist am Babystag gesetzt, im Groß sind alle drei Reffs eingebunden, als die Windgeschwindigkeit Werte zwischen 40 und 45 Knoten erreicht. Windstärke 9. Die See ist unglaublich aufgepeitscht, Meerwasser und Regenwasser fliegen waagerecht, Wellenkämme brechen. Nur in Longsleeve und Badehose steuere ich RIKKI TIKKI durch die Wellen und werde permanent von badewannenwarmer Gischt geduscht. Die Gewalt der Natur ist überwältigend. Als etwa drei Stunden später das schlimmste vorbei ist klappe ich zitternd unter Deck zusammen. Die Anspannung hatte alles andere zurückgehalten, aber jetzt überkommen mich im Nachhinein Angst und zugleich Erleichterung. Und die Ungewissheit: war es das schon oder was erwartet mich noch bevor ich den Südostpassat erreiche?
Die Wetterberichte der nächsten Tage beschreiben eine sehr ungünstige Situation. Die Doldrums haben sich weit nach Norden ausgedehnt, sind statt 200 Meilen 600 Meilen breit. Meine Taktik für diese Zone ist völlig über den Haufen geworfen. Das Kreuzen der Konvergenzzone ist eine der Schlüsselstellen auf der Route nach Brasilien. Je weiter westlich man sie erreicht, desto kürzer ist normalerweise die zu überwindende Strecke. Gleichzeitig wird der Windeinfallswinkel für die nach dem Verlassen der Doldrums verbleibenden 1000 Meilen zum Ziel immer ungünstiger, sodass man einen Kompromiss für die angestrebte geografische Länge finden muss. Als mich die ITCZ erwischt, befinde ich mich noch etwa 100 Meilen östlich von meinem angestrebten Längengrad. Trotzdem ist der einzige Ausweg jetzt im Süden. Mühselig arbeite ich mich in den tagsüber extrem leichten Winden vorwärts. Das Schlagen der Segel und der Backstagbeschläge zehrt an meinen Nerven während die Sonnenstrahlen ins tiefblaue, glasklare Wasser eintauchen. Die Doldrums sind Paradies und Hölle zugleich.
Blick aus der Schlafecke
Bevor mich die Konvergenzzone in Richtung Südostpassat entlässt hat sie noch eine letzte Prüfung für mich bereit. Es ist kurz nach Sonnenuntergang an einem dieser unendlich langen windarmen Tage und ich halte Ausschau nach nächtlichen Squalls. Ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, denn es ist kurz nach Neumond. Im Augenwinkel nehme ich ein kurzes Flackern war. Das Blinklicht des am Heckkorb montierten Senders für den Internettracker, denke ich. Dann wieder, doch das war diesmal bestimmt nicht der Sender. Gespannt blicke ich in die Finsternis. Der Himmel links von mir erhellt sich, für einen kurzen Moment wird die Silhouette eines mächtigen Wolkenturms sichtbar, wie von einer flackernden Glühbirne aus dem Off beleuchtet, und verschwindet sofort wieder in der Dunkelheit. Ich beuge mich nach rechts um unter dem Großbaum nach Westen zu blicken. Auch dort das gleiche Schauspiel, nur wenige Augenblicke später, dann wieder südlich direkt vor mir. Denis Hugues hatte im krakeligen SSB-Wetterbericht „Grains orageux“, also gewittrige Schauerböen, für das Vorhersagegebiet Sierra Leone angekündigt. Nun befinde ich mich mitten drin in einem Minenfeld aus Wolkentürmen, in denen hoch oben Blitze gelegentlich ihren Standort für einen Moment verraten. Kurze Schlafetappen nur, heute Nacht, das ist klar. Ständige Alarmbereitschaft statt es sich zwischen der Ausrüstung gemütlich zu machen und Musik zu hören. Mindestens alle 20 Minuten prüfe ich die Standorte der Unruheherde. Die Szene ist wunderschön und bedrohlich zugleich, als einer der Gewittertürme über mich hinwegzieht. Zwei Delfine eskortieren mich, Plankton leuchtet grünlich aus dem schwarzen Wasser. Doch der erwartete Starkwind bleibt in der Nacht noch aus. Erst am nächsten Tag entfaltet sich nochmal die ganze Gewalt eines Squalls über mir. Wieder 45 Knoten Wind, diesmal nur für eine halbe Stunde, aber nicht minder beeindruckend.
Als ich die südlichen Tradewinds erreiche fällt mir ein Stein vom Herzen. Um endlich wieder etwas mehr Strecke zu machen setze ich den Code 0 und fahre einen etwas schnelleren Kurs, zu weit nach Westen, im Vertrauen darauf, dass ich mich weit genug im Osten befinde und der Wind noch wie üblich weiter nach Osten drehen wird, je weiter ich nach Süden komme. Doch auch auf diesem letzten Teilstück des Minitransat macht das Wetter eine Ausnahme. Ein Tief an der brasilianischen Küste hält konstante Südwinde bereit, ich habe schon bald den Vorteil meiner östlichen Position verspielt und muss hoch am Wind versuchen noch an Fernando de Noronha vorbei zu kommen. Tagelang arbeitet sich RIKKI TIKKI durch die hohen Südatlantikwellen, kracht in jedes Wellental. Es ruckelt wie in einem Rallye-Auto, draußen kommt mit jeder Welle eine Ladung Gischt ins Cockpit geflogen, ich habe genug davon. Über 24 Stunden lang verkrieche ich mich fast ununterbrochen in meiner Schlafecke, doch selbst hier kann ich nicht entspannen, denn die in Luv gestaute Ausrüstung wird durch die Bootsbewegung immer wieder verschoben, Gegenstände landen auf mir und müssen neu fixiert werden. Ich bin am Ende mit den Nerven zähle jede Meile herunter, will nur noch ankommen. Endlich, am 05.11., sehe ich Palmen am Horizont.
Große Wellen vor der Skyline von Salvador wenige Stunden vor der Ankunft
Zwei kurze Blitze, ein Knall, mein Herz schlägt höher. Die Nervosität steigt als ich im Cockpit stehe und RIKKI TIKKI - inzwischen gesteuert von einem Brasilianer - in der Dunkelheit durch die Hafeneinfahrt geschleppt wird. Das Gebäude, das auf der linken Seite erscheint, ist hell erleuchtet. Von dort kam das kurze Feuerwerk und nun erschallt in voller Lautstärke mein Willkommenssong: "I paid the ferryman" von der Nürnberger Band The Robocop Kraus, mein Stück Heimat, das ich mir für die Ankunft selbst hatte aussuchen dürfen, und steigert die Emotionalität des Augenblicks noch mehr. Je weiter wir in den Hafen hineinfahren, desto besser ist im Hintergrund noch etwas anderes zu hören: Applaus, Jubelschreie. Beides gehört zu einer Menschentraube, die mein suchender Blick endlich an einer freien Stelle am Steg erblickt. Ich beginne erste Gesichter zu erkennen, andere Segler, Emma Creightons Vater Bill. Etwas hilflos stehe ich an Deck, wie versteinert, all diese Menschen sind da, um mich zu empfangen. Ich werfe Bill die Festmacherleine zu, die schon die ganze Zeit bereit liegt, ein sehr symbolischer Akt nach gut 23 Tagen auf See. Es ist endgültig geschafft, ich bin da, der Moment, auf den ich tage- und wochenlang sehnsüchtig gewartet hatte, der vor zwei Jahren noch ein Hirngespinst war, jetzt ist er da. Dann der große Schritt über die Reling, fester Boden, eine unbeschreibliche Freude  erfült mich. Es folgen überschwängliche Umarmungen: Bill, Dan, Emma, Ysbrand, Bruce, Pip, Giancarlodann verliert sich die Erinnerung. All diese Leute, nach 23 Tagen völliger Einsamkeit. Es ist zwischen sieben und acht Uhr abends, die Feierlaune meines Empfangskommittees ist schon von den ersten Caipirinhas angefacht. Jemand nimmt mir die Stirnlampe ab, Emma nestelt an der Fernbedienung für den Autopiloten herum, die mir noch um den Hals hängt. Nur kurz missverstehe ich das als Fürsorge, dann ist klar: jetzt wird gebadet, ob ich will oder nicht. Dan schultert mich in Rugbyspielermanier, im nächsten Moment sind wir beide unter Wasser neben dem Heck von RIKKI TIKKI. Ein Augenblick Stille, eine unendlich schwere Last fällt von meinen Schultern.



Ankunft in Salvador - alle Strapazen sind vergessen

Minis im Hafen von Salvador da Bahia

Sonnenaufgang
Blick durchs Seitenfenster auf Wolkentürme am Horizont


2 Kommentare:

  1. Allein es zu lesen ist sehr beeindruckend! Nochmal: Well done, Skipper!

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  2. Tolle Leistung und spannender Bericht! Adina

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